VFB-Interview mit Grünen-Spitzenkandidatin Andie Wörle
Der VFB traf sich mit der bayerischen Grünen-Spitzenkandidatin für die Europawahl (Listenplatz 16 der EU Liste der Grünen) in der VFB-Geschäftsstelle in München.
Das Gespräch fand im Rahmen des persönlichen Austausches mit politischen Entscheidungsträgern statt. Interviewpartnerin war die bayerische Grünen-Spitzenkandidatin Andie Wörle
Frau Wörle, Sie sind auf einem kleinen Bauernhof im Ostallgäu groß geworden. Wie sind Sie in die Politik gekommen?
Ich bin im Ostallgäu in einem konservativen Umfeld aufgewachsen und habe früh erkannt, dass man diese Landschaft schützen muss, dass es nicht reicht, einfach nur zu meckern. Mich hat auch das konservative Frauenbild gestört, und die geringeren Möglichkeiten für Mädchen und Frauen.
Die einzige politische Wahl, um daran etwas zu ändern, waren DIE GRÜNEN. Nach der Realschule und dem Fachabitur, studierte ich in Duisburg und Essen Politikwissenschaft, VWL und Anglistik. Nach meinem Diplom arbeitete ich vier Jahre als Finanzjournalisten. In den letzten Jahren habe ich in der Verwaltung und in der Politik in NRW, im Bundestag und im Europaparlament zu den Themen Haushalt und Finanzen gearbeitet.
Ich bin inzwischen seit fast 20 Jahren Parteimitglied und habe mich seit dem ehrenamtlich gerade im Bereich Europapolitik engagiert. Jetzt habe ich mich entschieden und möchte mehr Verantwortung für unser Land und Europa übernehmen. Deswegen kandidiere ich. Aktuell bin ich wegen der Europawahl von meinem Hauptberuf freigestellt.
Wo sehen Sie die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
Im Hinblick auf einen gerechte Gesellschaft möchte ich gerne etwas im Finanz- und Wirtschaftsbereich bewegen. Das Geld, was aktuell ausgegeben wird, egal ob auf europäischer Ebene oder bei Bund und Land, kommt etwa zu wenig den Frauen zu Gute. Ein Studie hat ausgewertet das 80% der EU-Corona-Hilfspakete in die Männer dominierten Branchen geflossen sind. Es passiert zu wenig im Pflegebereich, bei der Kinderbetreuung, und leider sind auch die sog. Frauenberufe immer noch schlechter bezahlt. Ein Anfang um das zu ändern ist das Lohntransparenzgesetz. Um den Fachkräftemangel zu beheben ist sicherlich ein Teil der Lösung Geflüchtete schneller in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Genauso wichtig ist es, Frauen nach der Elternzeit wieder einzugliedern, was aber eine vernünftige Möglichkeit der Kinderbetreuung voraussetzt. Die Hälfte der Frauen in meinem Alter, im Kernerwerbsalter, arbeitet nicht (in einer bezahlten Tätigkeit), oder nur Teilzeit, obwohl sie gerne mehr arbeiten würden. Das geht jedoch nur, wenn ihre Kinder gut betreut werden.
Auf einem gemeinsamen Podium in Würzburg mit dem GF der IHK und dem GF der Handwerkskammer habe ich Beide gefragt, was denn getan wird, um junge Frauen für die technischen Berufe oder das Handwerk zu begeistern. Die einzige Antwort war der „Tag der offenen Tür“. Aber es gibt gute Initiativen: So gibt es in Berlin ein Modell für Betriebe, das vorsieht, dass das Land Berlin die Kosten der Ausbildungsvergütung übernimmt zur Förderung von weiblichen Auszubildenden in mit Frauen gering besetzten (technischen) Ausbildungsberufen.
Eine Idee wäre auch Betrieben, die es schaffen mehr Frauen auszubilden oder wiedereinzugliedern, einen Bonus aus EU-Fördermitteln zu zahlen, der dann für Maßnahmen ausgegeben werden kann um diese Frauen auch zu halten, so zum Beispiel Kindergartenplätze für die Beschäftigten zu reservieren, oder einen Zuschuss für Betreuungsplätze zu zahlen.
Fehlendes Einkommen ist die größte Gefahr, um später in Altersarmut zu rutschen. Ich möchte an einer europäische Fachkräftestrategie arbeiten, die sowohl die Beschäftigung und Karrieremöglichkeiten von Frauen fördert, Geflüchtete schneller in den Arbeitsmarkt integriert und Zuwanderung vereinfacht. Das wäre auch gut für unsere Wirtschaft und das Klima. Denn wenn wir die vielen offenen Stellen in naher Zukunft nicht besetzen, können wir viele Probleme wie Umweltschutz und Digitalisierung nicht lösen, weil zu wenige Kapazitäten da sind.
Die Freien Berufe in Deutschland erwirtschaften jährlich rund 457 Milliarden Euro, das Handwerk zum Vergleich 651 Milliarden Euro. Die Bedeutung der Freien Berufe ist Gesellschaft und Politik unserer Wahrnehmung nach nicht ausreichend bewusst. Woran liegt dies Ihrer Meinung nach und was können die Freien Berufe tun, um dies zu ändern?
Ein Problem ist, dass viele Menschen gar nicht wissen, was Freie Berufe sind, welche Berufe dazu gehören.
Viele Menschen verwechseln Freie Berufe und Selbstständige, ein Problem der Definition also.
Die Freien Berufe sichern mit ihren kleinteiligen Strukturen die Daseinsvorsorge vor Ort. Der Arzt, der Apotheker, der Rechtsanwalt, der Architekt vor Ort, sind für die Bevölkerung auf dem Land essentiell, beleben das Dorfbild und sind für die Attraktivität des ländlichen Raums entscheidend. Zunehmend werden jedoch freiberufliche Aufgaben der Daseinsvorsorge durch gewerbliche Anbieter übernommen. Wie wollen Sie dieser Entwicklung entgegentreten?
Die EU-weite Vergabepolitik z.B. bei den Architekten und Ingenieuren ist ein großes, teilweise existenzbedrohendes Problem für die kleinen Büros, die da nicht mehr mithalten können. DIE GRÜNEN möchten eine Vergabepolitik, die auch vor Ort ansässigen Unternehmen die Chance gibt, einen Auftrag zu erhalten. Der Handwerker und der Architekt vor Ort muss auch eine Chance haben, die Wertschöpfung sollte in der Region bleiben.
Die MVZs, die fast nur in den Städten angesiedelt werden, schaden der medizinischen Versorgung im ländlichen Raum. Es gibt auch zu wenige medizinische Studienplätze. Man könnte Studienplätze auch daran koppeln, das sich der zukünftige Arzt verpflichtet, eine Hausarztpraxis auf dem Land zu übernehmen. Ebenfalls ein Problem auf dem Land ist die Zusammenlegung von Krankenhäusern. Das gesamte Gesundheitssystem ist unterfinanziert.
Freie Berufe leiden auch an überbordender Bürokratie. Da ist die Politik gefragt. Das Wirtschaftsministerium prüft gerade 160 Gesetze, wo diese schlanker gestaltet werden können. Auf EU Ebene werden gerade Vorschläge geprüft, dass Menschen, die neu gründen wollen, eine einzige Ansprechstelle für alle Themen dazu haben. Es soll das once-only-Prinzip greifen, nach welchem Daten nur an einer Stelle abgegeben werden müssen. Dies dient auch dazu, dass alle Informationen gebündelt bei einer Stelle abrufbar sind. Denn aktuell wissen beispielsweise viele Kommunen gar nicht, dass es Bundesprogramme gibt, die Fördergelder für Klimaschutz bereitstellen.
DIE GRÜNEN wollen diese Bürokratie abbauen.
Ein bayerisches Thema: Sie waren vier Jahre Vorstandsmitglied im Kreisverband Duisburg (2014 – 2018) und vier Jahre kulturpolitische Sprecherin der Stadtratsfraktion. Die Stundenreduzierung der kreativen Fächer in den Grundschulen ist aktuell ein großes Thema. Das bildungspolitische Thema betrifft jeden, auch die Freien Berufe. Was sagen Sie zu der neuen Regelung, die Kunststunden in den Schulen zu kürzen?
DIE GRÜNEN sind gegen die Kürzung der kreativen Stunden. Seit ich noch selbst zur Schule ging, heißt es, es müsse mehr in Bildung investiert werden. Warum machen wir das nicht endlich! Investitionen in gute Bildung sind nicht nur für die Menschen gut, sondern auch für den Staat sehr lohnend. Sie haben quasi eine Rendite wie ein Hedgefonds, da gut ausgebildete Menschen später meist höhere Einkommen erzielen und mehr Steuern bezahlen.
Was für Themen treiben Sie außerhalb der Politik um?
Aktuell die Unsicherheit wegen der tätlichen Angriffe auf Politiker und deren Wahlkampfhelfer. Die Demokratie ist in Gefahr, wenn politisch engagierte Menschen Angst vor Gewalt haben.