Gespräch mit Maria Noichl, Europaabgeordnete SPD

Maria Noichl EU-Abgeordnete der SPD

Sie sind seit 10 Jahren im EU-Parlament. Was hat sich in den 10 Jahren geändert?

Es gibt Veränderungen inhaltlicher Art, die zu Covid Zeiten deutlich wurden und auch als der Tanker damals im Suez Kanal stecken blieb. Da kam bei vielen Menschen plötzlich die Frage auf: , Wie sieht es mit unserer Selbstversorgung aus, sind wir bei systemrelevanten Produkten gut aufgestellt? Der Erkenntnisgewinn war:  Wir müssen weniger auf den Welthandel und die Lieferungen aus China vertrauen, sondern mehr hin zu einer eigenen vor-Ort Produktion von den wirklich wichtigen Dingen.

Wir haben beispielsweise die Herstellung von Solarmodulen an China verloren, obwohl Deutschland da schon ganz vorne dabei war. Sodass es Strafzölle auf die Einfuhr chinesischer Produkte, nämlich der chinesischen Elektroautos, gibt. Denn die Einfuhr dieser Autos hat zum Ziel, den europäischen Markt kaputt zu machen.

Der europäische Markt ist ein Träger Markt, im Gegensatz zum chinesischen, da dort von der Führung entschieden wird, was produziert wird. Bei uns läuft dies anders und nimmt daher auch mehr Zeit in Anspruch.  

Zusammenfassend ist zu sagen, dass in den letzten Jahren ein massives Umdenken zum Thema Selbstversorgung in Europa, Geschäftsbeziehungen zu China und zur Dezentralisierung stattgefunden hat. Letzteres ausgelöst durch Covid. Denn wenn zu Covid Zeiten die Futtermittelimporte nicht stattfinden hätten können, dann hätten die deutschen Landwirt:innen einen Teil der Tiere töten müssen, da wir in Deutschland nicht genug Ackerflächen für Futtermittel in Bezug auf die Anzahl der Tiere haben.

Was sich leider auch sehr verändert hat, ist der Umgang miteinander und der Esprit im EU- Parlament. Früher wurden der / die Unterlegene bei der Wahl des Ratspräsidenten / der Ratspräsidentin mit ins Parlament geholt, meistens als rechte Hand des neuen Präsidenten / der neuen Präsidentin. Heute ist das nicht mehr so. Der Umgang miteinander war hier immer eher wie im diplomatischen Dienst, nicht so ruppig wie z.B. im bayerischen Landtag.

Hier in Brüssel bin ich als Vertreterin für Deutschland, da muss ich diplomatischer sein. Fast jede Rede aller Kolleg:innen beginnt hier mit den Worten: “Ich möchte meinen Vorredner:innen danken“. Der Umgang untereinander ist hier eigentlich wertschätzender als im Landtag oder im Bundestag. Leider hat auch das sich in den letzten Jahren geändert, der Umgangston wird härter. Das liegt natürlich auch an den rechten Parteien, die hier mittlerweile immer mehr Platz einnehmen. Da wird der EU-Gedanke der Gemeinsamkeit nicht mehr gepflegt.

Das sieht man auch an der Person des aktuellen EU-Ratsvorsitzenden, Viktor Orbán, dessen Handlungen ja zu vielen Diskussionen Anlass geben. Leider gibt es noch keinen klaren Weg, wie damit umgegangen werden soll, dass Demokratiefeinde mittlerweile im EU-Parlament sitzen. Und da der Turnus, alle 6 Monate ein anderes EU-Mitglied mit der Präsidentschaft zu betrauen, auch nicht so einfach zu ändern ist, müssen wir damit erst einmal leben.

Nach dem Besuch von V. Orbán bei Putin hat sich Frau von der Leyen ja sofort davon distanziert und klar gemacht, dass dies ein privater Besuch war, und nicht im Namen von Europa stattfand. Das war sehr klar und gut von ihr.

Wo sehen Sie die Schwerpunkte Ihrer Arbeit in der neuen Sitzungsperiode?

Der Schwerpunkt für alle in der EU muss in den nächsten Jahren auf der Demokratie-Arbeit  liegen, wir müssen die Demokratie stärken und anti-demokratischen Strömungen klar eine Absage erteilen. Da ist im Moment die Position von Manfred Weber (CSU / EVP) ganz wichtig, da er sich aktuell bei jeder Abstimmung aussuchen kann, mit wem er, bzw. die EVP, eine Mehrheit bilden möchte.

Ich bin seit 10 Jahren sehr gerne in den gleichen Ausschüssen und damit zuständig für Gleichstellung und Agrarpolitik. Bei der Gleichstellung dürfen wir nicht nur nach Deutschland schauen, sondern auch in die anderen Länder der EU, in denen die Frauenrechte teilweise unter extremen Druck stehen. Auch hier geht unser Blick beispielsweise nach Ungarn oder nach Italien. Italien hat gerade den Slogan „Private Gewalt ist privat“ herausgebracht, was sehr bedenklich ist, in Folge davon wurden die Gelder für die Frauenhäuser gekürzt. Das ist ganz klar Ziel der Regierung Meloni.

Wir müssen für die Anerkennung der Leistungen der Frauen kämpfen, z.B. in der Care-Arbeit, da Europa immer älter wird und die Last der Care-Arbeit nicht nur bei den Frauen liegen darf.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist für mich das Thema Tiertransporte und Tierschutz, denn Tiere sind bei langen Fahrten quer durch Europa bislang in der Praxis meist ungeschützt. Da muss etwas passieren.

Aber natürlich müssen wir weiter für Demokratie und Frieden kämpfen und außerdem dafür sorgen, dass Menschen wieder verstehen, dass ein Kompromiss die höchste Form der Demokratie ist. Wer Kompromisse bilden will und kann ist Demokrat:in.

Die Frauen, die selbstständig in Freien Brufen arbeiten, fallen ja nicht unter den gesetzlichen Mutterschutz. Wie kann das verbessert werden?

Das ist ein wichtiges Thema, denn aktuell haben nur angestellt arbeitende Frauen Anspruch auf Mutterschutz und Mutterschaftsgeld. Laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts haben 2/3 der selbständig arbeitenden Frauen keine Vorsorgeversicherung für Mutterschutz abgeschlossen, was sicherlich finanzielle Gründe hat. Für diese Frauen ist es kaum möglich, nach der Geburt eine längere Beschäftigungspause einzulegen.

Dazu gehört auch das Thema der Versicherungen für Hebammen, welches geklärt werden muss. Probleme gibt es auch im Bereich der Dolmetscherinnen und Übersetzerinnen, die ja auch häufig als Selbständige arbeiten. Früher gab es in Brüssel mehr angestellt arbeitende Dolmetscherinnen und Übersetzerinnen, leider hat das abgenommen und damit sind auch die Arbeitsbedingungen der frei Arbeitenden schlechter geworden.

VFB: Die Freien Berufe in Deutschland erwirtschaften jährlich rund 457 Milliarden Euro, das Handwerk zum Vergleich 651 Milliarden Euro. Die Bedeutung der Freien Berufe ist Gesellschaft und Politik unserer Wahrnehmung nach nicht ausreichend bewusst. Woran liegt dies Ihrer Meinung nach und was können die Freien Berufe tun, um dies zu ändern? In der EU ist das deutsche System mit Kammern und Selbstverwaltung ja weitgehend unbekannt.

Ja, das ist ein Problem. Ärzt:innen, Zahnärzt:innen, Rechtsanwält:innen, Apotheker:innensind bekannte Freie Berufe, aber Ingenieur:innen, Hydrolog:innen, Gutachter:innen, Exportberater:innen und Fremdenführer:innen und viele andere Berufe werden den Freien Berufen oftmals nicht zugerechnet und insgesamt ist der Begriff “Freie Berufe“ weiterhin vielen unbekannt. Vielleicht liegt es daran, dass z.B. die Handwerker:innen bekannter sind und scheinbar eng zusammenstehen. Auch gibt es mit dem Gesellen- und Meister:innenbrief in Deutschland eine klare Einordnung, wie man Handwerker:in wird. Zunft und Tradition spielen hierbei eine große Rolle. Bei den Freien Berufen ist die Spanne der dazugehörenden Berufe unheimlich groß und unterschiedlich. Das betrifft die Ausbildung sowie die finanzielle Situation. Da die Freien Berufe viele gemeinsame Themen haben, sollten sie mehr als Gruppe gesehen und ernster genommen werden, zumal sehr viele Frauen als Freiberuflerinnen tätig sind. In der SPD-Bundestagsfraktion gibt es mit Herrn Esra Limbacher einen Beauftragten für die Freien Berufe.

Die Freien Berufe sichern mit ihrer kleinteiligen Struktur die Daseinsvorsorge vor Ort. Der Arzt, der Apotheker, der Rechtsanwalt, der Architekt vor Ort, sind für die Bevölkerung auf dem Land essentiell, beleben das Dorfbild und sind für die Attraktivität des ländlichen Raums entscheidend. Zunehmend werden jedoch freiberufliche Aufgaben der Daseinsvorsorge durch gewerbliche Anbieter übernommen. Wie wollen Sie dieser Entwicklung in Brüssel entgegentreten?   

Ich gebe Ihnen Recht. Es ist unfair, wenn eine Apotheke als Sicherstellungsleistung Nachtdienste und Wochenenddienste macht, weil Menschen, die akut Hilfe brauchen, eben nicht zur Versandapotheke gehen können. Aber Versandapotheken wiederum das große Geschäft machen, ohne den Sicherstellungsauftrag zu gewährleisten. Leider wird ja die Gemeinwohlleistung, das Nah-dran-sein, das Flächendeckende, das durch die Freien Berufe garantiert wird, von den großen übernehmenden Unternehmen nicht mit übernommen, sondern oftmals werden nur die gewinnbringenden Geschäfte abgezogen. Insoweit befinden wir uns als Staat und Gesellschaft in einer eigenen Kannibalisierung. Denn die Leute glauben, jetzt bei Versandapotheken im jungen Alter billig bestellen zu können und erkennen nicht, dass es später, wenn sie 80 Jahre alt sind, keine Vor-Ort-Apotheken mehr geben wird. Leider ist dies kaum zu transportieren, denn Geiz ist Geil. Aber es wird uns als Gesellschaft nicht weiterbringen. Hier müssen wir dringend dagegen arbeiten. Das Engagement der Selbstständigkeit, Risiko auch in finanzieller Hinsicht einzugehen sowie unternehmerisches Denken: Dies alles darf nicht verloren gehen. Leider ist es so, dass die Freien Berufe aktuell durchmachen, was die Handwerker:innen schon früher durchgemacht haben. So macht nicht die Schreiner:innen das große Geschäft, sondern Ikea. Es ist also kein direkter Angriff auf die Freien Berufe, sondern eben ein allgemeiner Trend, der uns aber nicht guttut. Es wird oft verkannt, dass die Gesellschaft ein Netz braucht: Ein Landwirt ist nichts ohne funktionierende Mühle und das Bäcker:innenhandwerk. Der Begriff Sicherstellungsauftrag muss weiter gefasst werden und wir müssen für einen Ausgleich sorgen. Dies haben wir als SPD immer wieder gefordert, so zum Beispiel eine Sonderabgabe von Amazon, Der Onlinehandel hat  in der Covid Zeit extrem gut verdient, während der Einzelhandel extreme Umsatzeinbußen zu verzeichnen hatte.  

Die Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung hat hohe Priorität. Wir müssen hier alle an einem Strang ziehen und die Politik sollte auch Bedingungen setzen dürfen. Denn wieso sollen junge Ärzte:innen nicht einige Jahre als Landärzte arbeiten müssen und ihre Ausbildung für die Gesellschaft einsetzen, die den teuren Studienplatz  finanziert hat. In der freien Wirtschaft ist dies bei der Finanzierung eines Ausbildungsplatzes oder einer Fortbildung auch üblich.

Fachkräftemangel ist weiterhin ein wichtiges Thema für die Freien Berufe. Was können Sie in Brüssel dafür tun, dass die eingewanderten qualifizierten Fachkräfte schneller dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen?                         

 Das ist ein Riesenproblem, das vor allem in Deutschland sehr stark ist. Von der Grundeinstellung bin ich dafür, Fachkräfte ins Land zu holen.  Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir nicht ‚brain drain‘ betreiben und alle Fachkräfte aus ihren Heimatländern abziehen. Dies ist natürlich nicht sinnvoll.

Nötig ist, dass wir die grenzüberschreitende Vermittlung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen erleichtern. Dies haben wir zwischen Österreich und Deutschland, aber viel zu selten mit anderen Ländern. Weiter müssen wir Beratungs- und Vermittlungsstrukturen ausbauen. Meiner Meinung nach muss europaweit auch mehr Geld in Bildung investiert werden. Dann braucht es eine Stärkung legaler Einreise durch ein europäisches Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Hierbei könnte das deutsche Fachkräfteeinwanderungsgesetz Vorbild sein.  Sehr wichtig ist, damit Integration gelingt, dass der Partner/die Familie integriert wird durch ein Jobangebot, einen Kindergartenplatz etc., denn sonst bleiben die Leute. Wir müssen begreifen, dass wir aufgrund des Fachkräftemangels diejenigen sind, die etwas tun müssen, damit sich die Leute wohlfühlen und bleiben. Wichtig ist auch die Reform der kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige. Denn dies ist eine wichtige Voraussetzung, dass Zugewanderte in qualifizierte Arbeit vermittelt werden.

Unser großer Schwachpunkt ist nämlich, dass wir die erste Generation der Zugewanderten völlig qualifikationslos einsetzen und damit verloren geben, obwohl sie oft mit einer Qualifikation kommen. Bei der Anerkennung von Qualifikationen brauchen wir in Deutschland mehr Lockerheit. Bei uns dauert dies zu lange und man braucht für alles Prüfungen. In anderen Ländern gibt es mehr Verständnis, dass auch durch die Ausübung der Tätigkeit über einen längeren Zeitraum eine Qualifikation erworben wird.

Schließlich wäre das Zulassen von Stufenausbildungen / Zwischenplateaus sinnvoll. Das könnte heißen, dass zum Beispiel ein im Ausland ausgebildeter Arzt an seine Aufgaben langsam herangeführt wird. Ganz wichtig ist aber, dass wir eine andere Willkommenskultur pflegen. Wenn wir nicht verstehen, dass es ein riesiger Pluspunkt für uns ist, wenn ausgebildete Menschen, die einen anderen Background mitbringen, zu uns kommen, wird sich am Fachkräftemangel nichts ändern.

Vielen Dank für das interessante und lebendige Gespräch.


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